Das 18. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert des Briefes. In dieser Epoche erfährt epistolares Schreiben vor allem im deutschsprachigen Raum einen bedeutsamen Wandel, der sich insbesondere durch die quantitative Vervielfachung und qualitative Veränderung des Briefes manifestiert. Allerdings steht die nicht zuletzt in zahlreichen Forschungsarbeiten immer wieder herausgearbeitete und betonte Bedeutung des Briefeschreibens im 18. Jahrhundert in einem deutlichen Missverhältnis zur Erschließung, Präsentation und Analyse der Korrespondenzen dieser Zeit. Untersuchungen, die eine aussagekräftige Anzahl an bestandsübergreifenden Briefkorpora einbeziehen, gibt es für diese Zeit nicht. Um gattungs- und mediengeschichtliche Zusammenhänge, epochenspezifische Entwicklungen und damit verbundene Innovationen der Briefkultur des 18. Jahrhunderts (und darüber hinaus) systematisch untersuchen zu können, ist die Schaffung einer aussagefähigen Daten- und Quellengrundlage nötig. Hier setzt das Projekt „Der deutsche Brief im 18. Jahrhundert. Aufbau einer Datenbasis und eines kooperativen Netzwerks zur Digitalisierung und Erforschung des Deutschen Briefes in der Zeit der Aufklärung“ an. Ziel des Kooperationsprojekts zwischen dem IZEA, der BBAW und der ULB Darmstadt ist es, auf der Grundlage umfassender Datensets von Metadaten und Volltexten neue Forschungsfragen und -ergebnisse zu epistolaren Austauschverhältnissen und damit zu einem zentralen Bestandteil der Kommunikationskultur im 18. Jahrhundert anzuregen und zu ermöglichen. Dafür wurde im Vorfeld ein repräsentativer Korpus definiert, der sowohl gedruckte ältere als auch moderne Editionen von Briefen und Korrespondenzen aus dem deutschen Sprachraum umfasst. In einer ersten Ausbaustufe wird ein Zugriff auf Metadaten zu rund 240.000 Briefen aus ca. 1.100 gedruckten Briefeditionen und Briefdatenbanken geschaffen.
Die Briefe werden in Form von Brief-Metadaten, Images und Volltexten zugänglich gemacht und mittels einer Ontologie formalisiert beschrieben. Geographisch gesehen werden Briefe von Briefschreiberinnen und Briefschreibern inkorporiert, die im deutschsprachigen Raum lebten bzw. sich für längere Zeit in diesem Raum aufgehalten haben. Ein solcher Zuschnitt schließt auch Briefe ein, die vom deutschsprachigen Raum aus an Korrespondentinnen und Korrespondenten außerhalb desselben sowie Briefe, die von außerhalb an Adressatinnen und Adressaten im deutschsprachigen Raum geschickt wurden. Eine solche Fokussierung auf den deutschsprachigen Raum ergibt sich aus der Notwendigkeit, dem Korpus sinnvolle Grenzen zu geben; sowohl in Hinsicht auf grundlegende Forschungsfragen als auch auf die Integration in die aktuelle europäische Forschungslandschaft. Das Korpus schließt potenziell alle Sprachen ein, wobei die deutsche, lateinische und französische Sprache überwiegen werden. Da ein wichtiges Erkenntnisinteresse des Projekts in der Herausarbeitung von Netzwerkstrukturen liegt, werden überwiegend Korrespondenzen zwischen zwei oder mehreren Personen in das Korpus aufgenommen, in denen sich relevante Beziehungen widerspiegeln. In der Regel nicht aufgenommen wird dagegen archivisches Schriftgut von Behörden, bei dem es sich um einen einseitigen Briefverkehr, beispielsweise von privaten Bittstellern an Ämter, handelt. Das Projekt soll die Grundlage liefern zu einer umfangreichen, statistisch gestützten Erfassung der vielfältigen geographischen, chronologischen und soziologischen Koordinaten, die Netzwerke im 18. Jahrhundert charakterisieren, wobei zugleich die Möglichkeit gegeben sein wird, den Netzwerkbegriff als solchen in seinen unterschiedlichen Funktionen zu schärfen. Fragen zur Verteilung von Korrespondenzen in Raum und Zeit, zur Bildung von Zentren und Peripherien, zur räumlichen Entwicklung von Netzen über längere Zeitspannen werden so neu, ja überhaupt erst beantwortet werden können. Insbesondere kann das Korpus die Basis für neue Untersuchungen zum Verhältnis zwischen lokalen, regionalen und überregionalen Ebenen im Briefverkehr deutschsprachiger Länder im 18. Jahrhundert schaffen und die Frage der Internationalisierung bzw. der Nationalisierung oder Regionalisierung der Briefkommunikation neu beleuchten. Neben diesen netzwerk- und konstellationsanalytischen Ansätzen werden Forschungen zur Entwicklung der Briefsprache(n) in einer zentralen Transformationsphase epistolaren Schreibens entscheidende Impulse erfahren. Über die Volltexte erhalten eine ganze Reihe von Wissenschaften, wozu u. a. die Literatur-, Sprach-, Kommunikations- und Kulturwissenschaften sowie die Geschichte und die Soziologie gehören, mit Hilfe von Techniken des Textmining (Heyer et al. 2016) Zugang zu Briefthemen und dem jeweiligen Briefstil. Schließlich diskutiert die Briefforschung seit längerer Zeit, was ein Brief überhaupt ist (Schlinzig /Socha 2018; Vellusig 2018). In seiner Mehrdimensionalität ist der Brief als historisch-biographisches Dokument, pragmatische Textsorte (Golz 1997) und literarische Gattung, aber auch als Medium (Baasner 2008; Vellusig 2018), Ereignis und Objekt (Bohnenkamp /Wiethölter 2008) beschrieben worden. Seine Vielschichtigkeit, gerahmt durch feste Konstanten wie Anrede, Datum oder Adressierung, gründet nicht zuletzt darin, dass er wie kaum eine andere Text- bzw. Kommunikationsform von den Konstellationen und den sozialen, historischen und kulturellen Umständen, in denen er entsteht, abhängig ist. Mit dem Projekt soll nicht zuletzt die Grundlage für eine (Neu)bestimmung und Schärfung der Entität ›Brief‹ in vielfältiger, insbesondere aber in historischer, soziologischer, geographischer, sprachwissenschaftlicher und literarischer Perspektive geschaffen werden.